Filmkritik: DIE GEWÄHLTEN

„Ich werde auch noch zum Haifisch!“ erklärt eine der Protagonistinnen selbstbewusst gegenüber der Kamera von Nancy Brandt. Bisher ist sie noch ein Nobody im bundesrepublikanischen Politbetrieb – ebenso wie vier andere junge Parteienvertreter, die zum ersten Mal den Sprung in die Schaltzentrale der Macht geschafft haben: Den Deutschen Bundestag. DIE GEWÄHLTEN läuft derzeit in den deutschen Kinos. Eine Kritik von Simon Hauck

„Einmal die Welt retten.“ Mit Worten – mit Engagement und Gemeinsinn. Trotz - oder gerade auch wegen des parteiübergreifenden Hinterbänklertums sowie der offensiven Missachtung der jeweils gegnerischen Redner am Pult des Deutschen Reichstags zu Berlin. Die hohe Leistungs- wie Leidensfähigkeit als Politikrookie im „Hohen Haus“ (Roger Willemsen) steht der erstmals gewählten Daniela Kolbe (SPD) ins Gesicht geschrieben. In den folgenden 102 Minuten wird die talentierte Naturwissenschaftlerin aus dem Osten am meisten Karriere machen. Geboren in Leipzig, Physikdiplom in der Tasche – und ein erkennbares Talent für die politischen Zusammenhänge. Als ihr dann auch noch, mehr zufällig als gewollt, eine große Chance offeriert wird, packt sie die Genossin gleich energisch beim Schopfe und wird schnell unverzichtbar für Ihre Fraktion. Quasi unvermeidlich denkt der Zuschauer mehr als unterschwellig an ein anderes berühmtes Mädchen aus dem Osten, das es mittlerweile sogar bis an die politische Spitze des Landes geschafft hat… Denn der bekanntlich schwierige Spagat zwischen Wahlkreis- und Parteiinteressen gelingt ihr deutlich besser als manch anderen KollegInnen.

Ungeschönt, ziemlich schnörkellos und mitunter sogar sehr offen äußern sich fünf neue Bundestagsmitglieder in Nancy Brandts bemerkenswertem Abschlussfilm, der an der HFF München entstanden ist. Da gibt es die Mitläufer - wie den baden-württembergischen CDU-Nachwuchsstern Steffen Bilger, der im wahrsten Sinne des Wortes von Beginn an mit schwimmt: Wo finde ich eigentlich die Büros der Union? Kein Ahnung: einfach mitlaufen! Die neuen Fraktionskollegen werden es schon wissen. Ein ebenso bezeichnender wie charmanter Einstieg ist das zu Beginn in Brandts Film. Auch später wird der Stefan-Mappus-Jüngling aus der mächtigen Ba-Wü-Union im Deutschen Bundestag am liebsten alles weglächeln. Keine Wahlkampfveranstaltung ist ihm zuwider, keine Nachfrage zum Megaprojekt „Stuttgart 21“ zu viel. Und natürlich auch kein Gesellschaftsevent: Denn beständig wie keiner der Portraitierten sucht er geradezu zwanghaft den Draht zur Macht. Konstant unterstützt lediglich von seiner adretten Freundin und dem schier endlos blinkenden Smartphone: That’s the way it is in Berlin nowadays. Zumindest in den Kreisen der Jungen Union.

Vier Jahre lang sitzt ein neu gewählter Abgeordneter im Deutschen Bundestag, mindestens. Gewählt vom Volk, versehen mit einem klaren Auftrag: Politik zu machen, was auch immer dies im einzelnen heutzutage überhaupt noch bedeutet. Angeblich nur dem eigenen Gewissen verpflichtet, obwohl natürlich stets der Fraktionszwang wie ein Damoklesschwert manchmal bedrohlich nahe über dem jeweiligen Abgeordneten schwebt. Setze ich meine persönlichen Politinteressen durch - oder doch nur wieder die meiner Partei? Welches Rädchen verkörpere ich als Einzelner im großen Ganzen?
Keine leichten Fragen sind das, egal ob man schon ein alter Hase in der deutschen Parteienlandschaft ist - oder ein Greenhorn wie Steffen Bilger (CDU), Agnes Krumwiede (Bündnis 90 / Die Grünen), Niema Movassat (Die Linke), Daniela Kolbe (SPD) und Sebastian Körber (FDP).

In unterschiedlicher Gewichtung, aber mit derselben Sympathie verfolgt sie Nancy Brandts Kamerablick über den Zeitraum einer Wahlperiode (2009 – 2013). Im Grunde alleine im Zuge des letzten Bundestagswahlergebnisses vereint, begleitet sie die junge, noch in der DDR sozialisierte Filmemacherin in ihrem fein sezierenden Langfilmdebüt über einen Zeitraum von fünf Jahren. Jeder der fünf Bundestagsneulinge ist - wenig überraschend - zu Beginn des Films hochmotiviert. Tüchtig, voller Elan wollen sie allesamt in Berlin durchstarten. Doch die überwältigenden Endorphine des Wahlabends sind rasch verflogen!

Authentisch bis zum Ende bleibt dabei eigentlich nur eine der Portraitierten: Agnes Krumwiede, 32, die damals einen Sitz in der Grünen-Fraktion ergattert hatte. Nicht unbedingt typisch für eine studierte Pianistin, die sich bisher mit Partituren anstatt mit Redemanuskripten herumschlagen musste. Als gebürtige Kreativwirtschafterin fühlt sie sich von Beginn an sichtlich unwohl im unüberschaubar wabernden Politbetrieb der Hauptstadt. Schnell nimmt sie sich selbst als „kleiner Goldfisch“ wahr. Doch das Berliner Haifischbecken ist groß und sehr tief… Mit schwarzer Langhaarmähne, staunendem Blick und durchaus unkonventionellen Methoden wirkt sie in dieser ganz besonderen Berufsgruppe, Stichwort „Berufspolitiker“ permanent verloren. Zu blind, zu naiv, am Ende sogar zu hübsch? Ihr attraktives Äußeres verschafft ihr anfangs zumindest deutlich mehr Aufmerksamkeit als ihre Fachkompetenz. Ein Tuscheln hier und ein Nicht-Ernst-Nehmen-Wollen da verfolgen sie trotzdem bis zum Schluss. Als große Unverstandene („Mindestlohn für Künstler“) sticht Krumwiede unweigerlich hervor: Ein Grund, warum sie in Brandts Dokumentarfilm ebenso rasch zur Sympathieträgerin avanciert. In ihrer ersten Redezeit im Deutschen Bundestag spricht die Heilige Johanna der Kulturbühnen dann auch engagiert über Hip-Hop-Beats wie Undergroundkultur - und fällt damit sofort aus der Reihe. Die mächtige Boulevardzeitung mit den vier Buchstaben kürt sie im Anschluss prompt zur „Miss Bundestag“: Nicht gerade ein Ehrentitel für die Grünenpolitikerin, die sich mehrmals im Film die Sinnfrage nach der eigentlichen Wirkungsmächtigkeit stellt.

Brandt pflegt in ihrem leise beobachtenden, moralisch selten wertenden Dokumentarfilm einen insgesamt recht nüchternen Regie-Stil. Deutlich emphatischer nähert sie sich ihren etwa gleichaltrigen Protagonisten allein in der ersten halben Stunde. Bloßstellung oder gar Angriff sind ihre Sache nicht. Im Gegenteil: von der Autorenfilmerin hätte man sich an mehreren Stellen dann doch noch ein energischeres Nachfragen gewünscht, so dass „Die Gewählten“ im Grunde weniger mit exklusiven Neuigkeiten aus den Hinterzimmern der Macht überraschen. Dagegen aber durch genaues Hinsehen und präzise Beobachtungen im Zuge der gesamten Amtsperiode am Ende doch einen abwechslungsreichen Blick in das bekanntermaßen mühsame Geschäft namens Politik erlauben, die beispielweise in Genderfragen noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen zu sein scheint.

Im Resultat bestätigt Nancy Brandt somit auch ein weiteres Mal Max Webers berühmtes Diktum, dass der Politikbetrieb im wesentlichen dem gemeinsamen „Bohren harter Bretter“ verpflichtet sei - und subjektive Sichtweisen oft genug weit dahinter angestellt werden müssen. Daran hat sich auch in der gegenwärtigen „Berliner Republik“ kaum etwas verändert, so das spröde Fazit der Filmemacherin.

Simon Hauck