Im Leben der Anderen

Hommage 2021: Das „Zeitraffer-Kino" der Helena Třeštíková

 

„Man lebt und lebt, und plötzlich ist man über Sechzig“, sagt Honzas Vater Petr in PRIVATE UNIVERSE. Wie wird der strohblonde Junge, der eben seine ersten, unsicheren Schritte wagt, einmal als Erwachsener aussehen? Helena Třeštíková taucht in ihren Filmen tief in Biografien ein, in private Universen. Die tschechische Regisseurin ist eine Meisterin der Langzeitbeobachtung, der Kür dokumentarischen Schaffens. Als „Zeitraffer-Filmemachen“ hat sie selbst einmal ihre Arbeitsweise beschrieben. Häufig folgt sie Menschen über Jahrzehnte hinweg, sammelt große Mengen an Material, das erst in der aufwendigen Montage nach dem Dreh seine finale Form findet.

Třeštíková, Jahrgang 1949, hat an der Prager Filmhochschule FAMU studiert und bis heute mehr als 50 Filme realisiert. In ihrem 15-minütigen Abschlussfilm MIRACLE von 1975 zeigt sie, wie ihre Freundin Jana Mutter wird: deren Ängste und die des Vaters Petr, die Gefühle, das Glück und den Alltag. Die Regisseurin beschließt, Janas und Petrs Sohn Honza weiterhin zu begleiten. 37 Jahre später erzählt der Film PRIVATE UNIVERSE den „Entwicklungsroman“ von Honza und seiner Familie. Auch die Eheetüden der MARRIAGE STORIES kreisen um familiäre Mikrokosmen, sind Langzeitbeobachtungen. Ebenso RENÉ: Anfangs ein Jüngling, halbstark mit nietenbesetzter Lederjacke, wird er viele Jahre im Gefängnis verbringen um dort, mit Unterstützung der Filmemacherin, zum Autor zu werden. MALLORY schließlich will es unbedingt schaffen, clean zu bleiben – sie hat gerade einen Sohn bekommen. 13 Jahre lang geht Třeštíková mit ihr durch Höhen und Tiefen. Auch in ihrem jüngsten Film ANNY begleitet die Regisseurin so eine Unermüdliche, dieses Mal eine Sexarbeiterin im fortgeschrittenen Alter.

Stets spiegelt und bricht sich in Třeštíkovás Filmen die Zeitgeschichte, der Makrokosmos in den Mikrokosmen: Václav Havel hält seine denkwürdigen Reden, Revolutionen ziehen auf dem Fernseher vorüber, der erste tschechische Kosmonaut schwebt durchs All: Und dann und wann singt Karel Gott. Třeštíková macht, ganz im Sinne Jean-Luc Godards, keine politischen Filme, sondern Filme politisch.

Dies gilt auch, wenn sich die Regisseurin für Menschen interessiert, die in der Öffentlichkeit standen: wie die Schauspielerin und Sängerin Lída Baarová in DOOMED BEAUTY, der nachgesagt wird, Joseph Goebbels’ Geliebte gewesen zu sein oder Miloš Forman in FORMAN VS. FORMAN. Unkonventionell eignet sie sich das Archivmaterial an; das Zeitbild, das sie entwirft, ist alles andere als auktorial historisch. Subtil lässt sie das Material aufeinanderprallen – ähnlich wie in ihren Langzeitbeobachtungen.

Das Leben der Anderen wirft auf das eigene Leben zurück, auf die eigenen kleinen Dramen und großen Augenblicke. Wir leben und leben, und plötzlich sind wir über Sechzig. Helena Třeštíkovás Filme schärfen den Blick für die wichtigen Details. Oft schärfen sie so den Blick für das Glück. Und dann und wann singt Karel Gott.

Julia Teichmann

 

Die Filme

 

ANNY

Tschechische Republik 2020, Helena Třeštíková, 67 Min. 

Zwischen 1996 und 2012 trifft Helena Třeštíková immer wieder Anny, die als Toilettenfrau arbeitet und im Alter von 46 Jahren mit der Sexarbeit begonnen hat. Vor diesem ungewöhnlichen Hintergrund nimmt die Regisseurn Annys Alltag, ihre Sorgen und ihre Gedanken zum Kommunismus in ihren Film auf.

 

FORMAN VS. FORMAN

Tschechische Republik 2019, Helena Třeštíková, Jakub Hejna, 78 Min. 

Miloš Forman in Wort und Bild! In Archivaufnahmen und Interviews entsteht das faszinierende und intime Porträt des tschechisch-amerikanischen Meisterregisseurs.

 

DOOMED BEAUTY

Tschechische Republik 2016, Helena Třeštíková, Jakub Hejna, 90 Min. 

Nazigrößen umwarben die gefeierte tschechisch-österreichische Schauspielerin Lída Baarová – allen voran der Reichsminister für Propaganda. Als „Goebbels Geliebte” verkehrte sie in den höchsten Kreisen der NS-Elite – eine Rolle, die ihr nach dem Krieg zum Verhängnis wurde.

 

MALLORY

Tschechische Republik 2015, Helena Třeštíková, 101 Min. 

Einfach nur ein glückliches Leben führen – das ist alles, was Mallory sich wünscht. 13 Jahre lang begleitet Helena Třeštíková ihre Protagonistin durch sämtliche Krisen, beständig und unbeirrbar auf dem Weg in eine bessere Zukunft.

 

PRIVATE UNIVERSE

Tschechische Republik 2012, Helena Třeštíková, 83 Min. 

Eine ganz normale tschechische Familie, 37 Jahre lang im Fokus der Kamera, seit den 70er-Jahren. Das „private Universum“ des Familienlebens vor der Kulisse politischen und gesellschaftlichen Wandels.

 

RENÉ

Tschechische Republik 2008, Helena Třeštíková, 83 Min. 

Über einen Zeitraum von 20 Jahren hält der Film das glücklose Leben von René fest, das zwischen Gefängnis und Freiheit hin- und herpendelt. Während er sich als Desperado stilisiert, durchläuft das Land um ihn herum radikale Umwälzungen.

 

MARRIAGE STORIES – IVANA AND VÁCLAV (1987)

MARRIAGE STORIES – IVANA AND VÁCLAV (2005)

Tschechische Republik 1987/2005, Helena Třeštíková, 35 / 55 Min. 

Eine Zeitreise durch ein Eheleben – in ihrem ersten Dokumentarfilmzyklus begleitet Helena Třeštíková junge Paare vor und Jahrzehnte nach ihrer Hochzeit. Ein eindrückliches Dokument einer gesellschaftlichen Institution im Wandel der Zeit.

 

MIRACLE

Tschechische Republik 1975, Helena Třeštíková, 15 Min.

Der frühe Kurzfilm der tschechischen Regisseurin lässt bereits ihre spätere Handschrift erkennen – in wenigen Szenen entsteht das intime Porträt einer jungen Frau, die sich auf ihre Rolle als Mutter vorbereitet.